Moritz Mall vom Hector Institute for Translational Brain Research am Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) hat sich bereit erklärt, unsere Fragen zum MYT1L-Syndrom zu beantworten. Herr Mall forscht seit 2012 am MYT1L- Gen im Bereich der Grundlagenforschung und hat seit 2018 eine eigene Forschungsgruppe in Heidelberg.

 

Lieber Herr Mall, wo liegt das MYT1l-Gen und welche Funktion hat es?

Menschen haben 23 Chromosomenpaare, je eine Kopie von Mutter und Vater, auf denen sich die Gene befinden. Das Gen, das als Bauanleitung für MYT1L dient, liegt fast am Ende des kürzeren der zwei Arme vom Chromosom 2,- um genau zu sein im Bereich 2p25.3.

MYT1L ist ein Genschalter, auch Transkriptionsfaktor genannt, der reguliert, ob andere Gene an- oder ausgeschaltet sind. MYT1L ist fast ausschließlich in Nervenzellen aktiv und reguliert dort viele Gene, die für die Entwicklung wichtig sind. Interessanterweise ist eine Aufgabe von MYT1L unerwünschte Gene auszuschalten, weil sie beispielsweise nur in Muskelzellen angeschaltet sind. Dadurch fungiert MYT1L wie ein „Gen-Wächter“, der die Entstehung und Funktion von Nervenzellen sicherstellt und damit einhergehend die normale Entwicklung und Aufgaben des Gehirns. Die genaue Funktion, insbesondere aber auch die Fehlfunktion in Patienten, ist aber nicht abschließend geklärt. Daran wird unter anderem aktiv in unserem Labor geforscht.

 

Was passiert bei einer Veränderung von MYT1L?

Es gibt verschiedene Veränderungen, sogenannte Mutationen, welche die Funktion von MYT1L stören können. Diese führen dazu, dass die Gehirnentwicklung und die Funktion der Nervenzellen gestört ist, was man als MYT1L-Syndrom bezeichnet. Dies kann in Patienten zu Entwicklungsstörungen und geistiger Behinderung führen, sowie mit Sprachverzögerung und übermäßiger Gewichtszunahme einhergehen. Weitere Merkmale sind Verhaltensauffälligkeiten, einschließlich autistischer Merkmale sowie Epilepsie, Schlafstörungen und manchmal auftretende kraniofaziale Fehlbildungen von Kopf und Gesicht. 

 

Wie entstehen Mutationen?

Mutationen sind Veränderungen in der DNA-Sequenz eines Genes. Bei den meisten bisher bekannten Personen mit MYT1L-Syndrom trat die genetische Veränderung von MYT1L zum ersten Mal auf und wurde nicht von einem Elternteil vererbt. Man bezeichnet solche spontanen Veränderungen auch de novo Mutationen. Es gibt spontane Mutationen, die zum Beispiel durch Fehler während des Kopiervorganges der Chromosomen bei der Zellteilung entstehen. Andere Mutationen entstehen durch Chemikalien oder UV-Strahlung. In seltenen Fällen sind die MYT1L Veränderungen von symptomatischen Eltern an ihre Kinder vererbt worden. Es gibt keine bekannte Ursache für die Veränderungen des MYT1L-Gens, die dieses Syndrom verursacht. Deshalb ist es wichtig zu betonen, dass es nichts gibt, dass Sie als Eltern getan oder nicht getan haben, was den Zustand verursacht hat.

 

Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass eine Veränderung bereits in Sperma oder Eizelle angelegt ist?

Die meisten bisher beschriebenen Veränderungen bei Patienten mit MYT1L-Syndrom traten spontan auf und waren nicht bei den Eltern festzustellen. Das bedeutet, dass die Wahrscheinlichkeit, ein weiteres Kind mit der gleichen Erkrankung zu bekommen, sehr gering ist (< 1 %). Diese sehr geringe Wahrscheinlichkeit, ein zweites betroffenes Kind zu bekommen, ist auf einen sogenannten „Gonadenmosaik“ zurückzuführen. Das bedeutet, dass die Genveränderung nur in den Spermien oder Eizellen, nicht aber im Blut des Elternteils zu finden wäre. Dies könnte theoretisch dazu führen, dass ein Elternteil mit einem normalen Bluttest für eine MYT1L-Genveränderung ein zweites betroffenes Kind bekommt. Des Weiteren sind Fälle beschrieben in denen ein symptomatischer Elternteil die Veränderungen an seine Kinder weitervererbt hat. Ich würde darum betroffenen Eltern und Patienten raten eine genetische Beratungseinrichtung bei der Familienplanung miteinzubeziehen.

 

Welche Formen der Mutation gibt es?

Vereinfacht gesprochen gibt es zwei Formen von Mutationen, die bei Patienten mit MYT1L-Syndrom beobachtet wurden. Mutationen die nur wenige einzelne Bausteine des MYT1L Genes betreffen, diese werden auch Punktmutationen genannt. Außerdem sind auch strukturelle Umlagerungen von größeren Bereichen des Chromosom 2 auf dem das MYT1L Gen liegt in Patienten beschrieben. Geht ein Teil des Chromosoms verloren, bezeichnet man das als Deletion, werden Abschnitte vervielfältig, dann spricht man von deiner Duplikation. Die Funktionen von MYT1L können durch diese Veränderungen vermindert werden oder ganz verloren gehen, beziehungsweise gegebenenfalls verändert oder sogar gesteigert werden. In den bis heute beschrieben Patienten betreffen die Mutationen jeweils nur eine der zwei Kopien die in unseren Zellen vorliegen. Leider scheint die vorhandene „gesunde“ Kopie den Funktionsverlust nicht auffangen zu können, man spricht hierbei von Haploinsuffizienz.

 

Gibt es Anhaltspunkte, dass die unterschiedliche Art der Mutation sich weniger oder mehr auf die Entwicklung des Kindes auswirkt oder gibt es eine Idee, warum sich die Kinder so unterschiedlich entwickeln?

Die Frage wie sich verschieden MYT1L Mutationen unterschiedlich auf die Entwicklung der Kinder auswirken ist leider nicht genau geklärt. Es gibt aber starke Hinweise, dass Mutationen die einen Funktionsverlust einer der zwei Genkopien von MYT1L hervorrufen, zum Auftreten von den oben beschriebenen Symptomen des MYT1L-Syndrom führen, insbesondere Entwicklungsverzögerung und geistige Behinderung. Diese können entweder durch Deletion oder Punktmutation entstehen, die zu einem Genprodukt führen, dass entweder in der Zelle abgebaut wird oder ein gekürztes nicht funktionsfähiges MYT1L produzieren. Erstaunlicherweise finden sich in Patienten auch gehäuft Punktmutationen die nur einzelne Bausteine von MYT1L in den sogenannten Zink-Fingern verändern. Da diese Veränderungen aber in den Bereichen liegen, welche MYT1L benötigt um andere Gene zu binden, vermutet man, dass selbst diese kleinsten Veränderungen dazu führen, dass MYT1L die Funktion als „Gen-Wächter“ nicht mehr richtig ausführen kann und darum die Entwicklung der Kinder beeinflusst wird. Bei einigen Mutationen ist hingegen völlig unklar wie sie die Funktion von MYT1L und damit die Entwicklung der Kinder verändern. Darum forschen wir fieberhaft daran Antworten zu finden wie genau die einzelnen Mutationen die Funktion von MYT1L stören können.

 

In welchem Zusammenhang steht MYT1L mit dem fehlenden Sättigungsgefühl, das häufig begleitendes Symptom ist?

Übermäßiger Appetit oder ein fehlendes Sättigungsgefühl ist in einigen Patienten mit MYT1L-Syndrom beobachtet worden und kann zu übermäßiger Gewichtszunahme führen. Allerdings ist leider auch hier die Rolle von MYT1L noch nicht eindeutig geklärt. Eine Studie in Zebrafischen, der als biologisches Model häufig für genetische Studien benutzt wird, konnte allerdings zeigen, dass MYT1L unter anderem die Entwicklung der Gehirnregion reguliert, den sogenannten Hypothalamus, welche auch die Entstehung von Hunger- und von Sättigungsgefühlen reguliert. Interessanterweise stört der Verlust der MYT1L-Funktion im Zebrafisch die Entwicklung des Hypothalamus und führt zu weniger Oxytocin. Oxytocin das als Bindungshormon bekannt ist, ist auch an Autismus und Adipositas beteiligt. Auch hier sind aber weitere Forschungsarbeiten und Studien nötig um mehr über die Rolle von MYT1L im Zusammenhang mit fehlenden Sättigungsgefühl sowie Mögliche Behandlungen zu erkunden.

 

In welchem Kontext steht MYT1L mit Autismus und Schizophrenie?

Neben den oben beschrieben Symptomen ist fast die Hälfte der bisher beschrieben Patienten mit MYT1L Mutationen mit einer Autismus-Spektrum-Störung diagnostiziert worden. In selteneren Fällen wurde Schizophrenie beschrieben. Obwohl manche überschneidende Verhaltensmerkmale zwischen diesen neuropsychiatrischen Zuständen existieren unterscheiden sie sich grundlegend vor allem betreffend dem Einsetzen von Symptomen und dem Vorhandensein beziehungsweise Fehlen einer offenen Psychose. Bisher ist lediglich bekannt das Schizophrenie gehäuft in Patienten vorlag in denen ein Teil von MY1TL auf dem Chromosom 2 dupliziert war, allerdings befindet sich in diesem Bereich noch ein weiteres Gen namens PXDN, und die molekularen Mechanismen ob und wie genau bestimmte MYT1L Mutationen zu Autismus oder Schizophrenie führen sind noch völlig unklar.

 

Seit wann forschen Sie an dem MYT1L Gen und wie kam es dazu?

Ich forsche seit nunmehr 10 Jahren an MYT1L und seiner Funktion. Angefangen hat alles 2012 als ich nach meiner Doktorarbeit am Europäischen Laboratorium für Molekularbiologie an die Stanford Universität in Kalifornien aufgebrochen bin, um dort zu erforschen wie Gehirnzellen entstehen und wie wir diese künstlich herstellen können um in Zukunft Gehirnerkrankungen besser zu verstehen oder gar zu behandeln. Zu diesem Zeitpunkt war sehr wenig über MYT1L bekannt, man wusste aber, dass es im Zusammenspiel mit anderen Faktoren Nervenzellen erzeugen kann. Bei meiner Arbeit habe ich herausgefunden das der „Gen-Wächter“ MYT1L eine ganz unerwartete und besondere Funktion hat die gewährleistet das unerwünschte Gene ausgeschaltet werden damit sich Nervenzellen bilden können. Zu dieser Zeit wurden auch die ersten Berichte bekannt das MYT1L Mutationen bei Patienten mit Gehirnerkrankungen beobachtet werden konnten. Motiviert durch meine Forschung besser zum Verständnis und zur Behandlung von Krankheiten beizutragen habe ich 2018 meine eigene Forschungsgruppe am neu gegründeten Hector Institut für Transnationale Hirnforschung am Deutschen Krebsforschungszentrum eröffnet. Hier widmet sich ein großer Teil meines hochmotivierteren internationalen Teams der Frage, wie MYT1L funktioniert und was in Patienten mit Mutationen passiert. 

 

Was können Sie uns zu Ihrem aktuellen Forschungsvorhaben sagen?

Unsere Forschung an MYT1L hat zwei Ziele. Erstens wollen wir genau verstehen welche Rolle MYT1L in der normalen Gehirnentwicklung spielt. Zweitens erforschen wir auf molekularer Ebene wie verschiedene Mutationen die Funktion von MYT1L stören können und somit zu den unterschiedlichen Effekten bei Patienten führen. Dazu benutzen wir verschiedene Modelle. Zum einen haben wir ein neues Mausmodel erstellt, das es uns erlaubt den Funktionsverlust von MYT1L auf die Gehirnentwicklung zu untersuchen und gleichzeitig komplexe Symptome wie veränderte Verhaltensweisen zu erforschen. Unsere Forschung weist darauf hin, dass MYT1L Mutationen in Mäusen Veränderungen hervorrufen, die mit Patienten vergleichbar sind, dazu zählen Entwicklungsverzögerung und Verhaltensveränderungen. Des Weiteren machen wir uns modernste Technologien zunutze, die uns erlauben, verschiedene Mutationen in künstlich hergestellten menschlichen Nervenzellen zu untersuchen. Dazu können wir die Veränderungen gezielt mit sogenannten Genscheren in die Zellen einfügen. Oder wir untersuchen, wie in der Studie zusammen mit ihrer Familie, die Veränderungen direkt in Zellen von Patienten. Hierzu verwenden wir beispielweise eine kleine Menge Blut um daraus sogenannte pluripotente Stammzellen zu machen. Diese kleinen Alleskönner bringen wir dann dazu, in der Kulturschale gezielt Gehirnzellen zu bilden. Die können wir dann genau untersuchen, beispielsweise welche Gene aktiv sind oder ob die Nervenzellen noch genauso gewissenhaft elektrische Signale übertragen können wie sie es normalerweise tun. Die Untersuchungen an Patientenzellen hoffen wir dieses Jahr beginnen zu können, aber erste Daten aus künstlich hergestellten menschlichen Nervenzellen deuten an, dass MYT1L Funktionsverlust sowohl Genexpression und dadurch sozusagen die Identität der Zellen beeinflusst, als auch Ihre Funktion elektrische Signale zu übertragen. Dies ist sehr spannend, da wir hoffen durch unsere Grundlagenforschungen das Fundament zu legen, in Zukunft Therapien für Patienten mit MYT1L-Syndrom zu ermöglichen.

 

Wo liegen die langfristigen Hoffnungen Ihrer Forschung?

Unser Antrieb und unsere langfristige Hoffnung ist es, mit unserer Forschung Patienten zu helfen. Leider ist unser Wissen zum MYT1L-Syndrom noch sehr begrenzt und darum der Weg zur gezielten Behandlung noch ungewiss und weit. Davon ungebremst ist unsere große Motivation die grundlegenden Mechanismen zu verstehen die der „Gen-Wächter“ MYT1L für die normale Entwicklung und langfristige Funktion des Gehirns so wichtig machen. Sie haben viele wichtige aber noch unbeantwortete Fragen aufgeworfen, die für betroffene Kinder und deren Familien wichtig sind und welche wir als Forscher unbedingt beantworteten wollen. Insbesondere wie und wann sich bestimmte Mutationen unterschiedlich auf die Entwicklung der Kinder auswirken und zu bestimmten Symptomen führen. Durch unsere Grundlagenforschung hoffen wir molekulare Mechanismen und möglichweise Angriffspunkte zu finden um MYT1L-Syndrom Patienten in Zukunft zu helfen. An diesem Ziel arbeitet mein Team unermüdlich und wir sind unendlich dankbar für das aktive Interesse und Mitwirken von betroffenen Familien wie Ihnen, um diesem Ziel näher zu kommen.

 

Wir treffen Moritz Mall (links) in Hamburg

Wir bedanken uns bei Moritz Mall dafür, dass er uns diese Informationen auf Deutsch zur Verfügung gestellt hat und natürlich für seine Forschung, um diese sehr seltene Erkrankung besser zu verstehen.