Jonte (geboren 2017)
Das Leben wäre vielleicht weniger anstrengend, hätte ich dich nicht getroffen. Aber es wäre nicht mein Leben.
Erich Fried
Unser zweites Kind Jonte kommt im September 2017 als geplanter Kaiserschnitt auf die Welt und uns wird von allen Seiten zu unserem gesunden Sohn gratuliert. Trotzdem ist es schnell da, das ungute Gefühl, dass Jonte vielleicht eine Behinderung hat.
Wir hatten bewußt in beiden Schwangerschaften keine weiterführende Pränataldiagnostik gemacht. Es waren unsere Kinder. Bedingungslos gewollt. Bedingungslos willkommen. Das waren unsere Werte zum Leben und Einstellungen zu Wahrscheinlichkeiten. Und der Gedanke, dass es schon gut gehen wird.
Und dann wird die kleine Wahrscheinlichkeit einer Behinderung realer und macht mir wahnsinnige Angst.
Jonte schaut uns nicht richtig an, reagiert nicht auf unsere Stimmen, bewegt sich wenig und wirkt insgesamt sehr schlapp. Als er mit vier Monaten noch immer keine Kopfkontrolle hat, beginnen wir mit der Physiotherapie und stellen ihn diversen Ärzten vor. Ich kann nicht damit umgehen, wenn man mir sagt, dass mein Kind einfach mehr Zeit brauche, genauso wenig wie mit der Aussage, dass mit Jonte etwas nicht stimme.
Es ist schwer, mit Jonte in Kontakt zu kommen. Er interagiert nicht auf auf „neurotypische Art und Weise“. Dann sehe ich die kleine Hand, die meinen Daumen umfasst. Sehe das vertrauensvolle Einschlafen nach dem Stillen in meinen Armen. Ich kann ihn beruhigen, wenn er weint. Wir finden Lieder, die wir beide mögen und dann lächelt er uns hin und wieder direkt an. Die Ungewissheit bleibt, die Beziehung und der Kontakt zu meinem Sohn wachsen.
Mit neun Monaten hat Jonte dann einen Krampfanfall. Zunächst kurze tonische Anfälle, und dann ein Grand-Mal-Anfall, ein generalisiernder tonisch klonischer Anfall über mehrere Minuten – Jonte ist nicht mehr ansprechbar und seine Lippen werden blau. Der Krampf lässt sich nur mit einem Notfallmedikamet unterbrechen. Im Krankenhaus krampft er weitere Male. Es werden ein MRT und eine Lumbalpunktion gemacht – ohne Befund. Sein EEG dagegen ist pathologisch. Wir beginnen eine Therapie mit dem Antiepileptikum Levetiraceptam. Die Krämpfe hören auf.
Das Kontroll-EGG vier Wochen später ergibt, dass Jonte eine Epilepsie entwickelt hat. Unsere Neurologin erklärt uns, dass man bei Entwicklungsverzögerung und Epilepsie von einer Behinderung ausgehen müsse. Ich möchte ihre Worte nicht hören und mir am liebsten meine Ohren zu halten. Stattdessen drücke ich Jonte fest an mich und weine still. Die Welt steht auch still. Oder überschlägt sie sich? Ich erinnere mich nicht.
Die Diagnose Epilepsie jagt mir große Angst ein. Trotzdem bringt sie mich nach und nach einen Schritt weiter in Richtung Akzeptanz. Vorher war es mir wichtig, dass Jonte seine Entwicklungsverzögerung aufholt, dass er so „normal“ wie möglich wird. Jetzt denke ich, dass es am Wichtigsten ist, dass er das Kind sein darf, das er ist. Denn wenn du einmal dem Schreckgespenst Epilepsie begegnest, bewertest du neu. Ein gutes Gefühl von Gleichgewicht stellt sich ein.
Wir haben großes Glück, denn die Medikation, die Jonte nimmt, scheint zu wirken: Sein EEG zeigt seit drei Jahren keine Auffälligkeiten mehr. Da wir an ganz vereinzelten Tagen Anzeichen möglicher Anfälle beobachten, nimmt er immer noch täglich das Levetiraceptam. Er verträgt es gut und es zeigt keine Nebenwirkungen.
Als Jonte 12 Monate alt, ist wird uns zu einer Trio-Exomanalyse geraten. Ganz unerwartet bekommen wir nach langem Warten ein Ergebnis mit der Diagnose: Eine in der Fachliteratur noch nicht beschriebene de Novo Missense-Veränderung im MYT1L-Gen. Weltweit sind zu dem Zeitpunkt 13 andere betroffene Menschen bekannt. Jonte ist da 18 Monate alt. Ich bin entsetzt über diese Ungerechtigkeit und Endgültigkeit der Diagnose. Dann tritt auch Erleichterung ein. Ich habe nichts falsch gemacht oder übersehen – es gibt einen Grund, warum Jonte sich nicht normal entwickelt.
Wir haben seit der Diagnose aufgehört, unseren Sohn mit anderen Kindern zu vergleichen oder uns an den offiziellen Meilensteinen zu orientieren. Und trotzdem führe ich hin und wieder Verhandlungen mit meinem Mann oder einer großen mächtigen Unbekannten: Über Rollstühle, Autismus, selbstverletzendes Verhalten, Nonverbalität und Intelligenzminderung. Bewerte, wäge mit meinem eigenen Wissen und Unwissen und Vorurteilen ab. Bis mein Mann zu mir sagt: „Die Hauptsache ist doch, dass Jonte keine Glücklichkeitsminderung hat.“
Jonte ist kognitiv sehr stark betroffen. Trotzdem feiern wir viele kleine und große Entwicklungsschritte: Er bewegt sich im Hasenhopser vorwärts, er kann sitzen, er kommt die Treppe hochgekrabbelt. Frei stehen oder laufen kann er nicht. Seit einiger Zeit zieht er sich in den Stand hoch und kann mit Unterstützung einige Schritte gehen. Wir glauben fest daran, dass er laufen lernen wird. Er hat mit dreieinhalb Jahren einen Rollstuhl bekommen. Diesen kann er selbstständig lenken und uns zeigen, wo er hin möchte (am liebsten S-Bahn-Züge angucken oder zur Eisdiele).
Jonte hat ein sehr geringes Sprachverständnis und keine Sprechfertigkeiten. Er sagt zu meiner großen Freude Mama, er meint jedoch nicht immer mich damit. Trotzdem zeigt er deutlich, ob er etwas mag oder nicht. Wir arbeiten mit unterstützender Kommunikation (aktuell führen wir die GoTalknow App ein) sowie Gebärden. Jonte kann ausdrücken, welches Müsli er essen möchte oder welches Lied seine große Schwester für ihn singen soll. Und doch liegt es an uns, seine Bedürfnisse zu erkennen und er ist sehr stark von uns abhängig. Ich denke und fühle für zwei.
Jonte kann winken, zuprosten, Küsse und Umarmungen und Applaus geben. Er liebt seine ganze Familie und zeigt diese Liebe; er mag Musik, Wasser, sein Keyboard, seinen „Hörbert“ und die Waschmaschine. Und besonders den Staubsauger.
Auf der Gefühlsseite ist er zwischendurch sehr impulsiv und seine Stimmung schwankt stark. Wir beobachten immer wieder sogenanntes herausforderndes Verhalten. Er beißt sich zum Beispiel bei großem Stress oder Frustration in die Hand oder haut seinen Kopf auf den Boden. Bis jetzt holen wir ihn zum Glück meistens schnell aus diesem Zustand raus, indem wir ihm sanft zureden, ihn ablenken oder ihn auf die Situation vorbereiten.
Seit Jonte zwei Jahre alt ist, geht er als I-Kind in einen Regelkindergarten und bekommt hier den größten Teil seiner Therapien: zweimal wöchentlich Physiotherapie, einmal wöchentlich Logopädie und einmal wöchentlich Heilpädagogik. Mittlerweile ist er in seiner Gruppe sehr gut angekommen und es gefällt ihm sichtlich.
Als Hilfsmittel hat er Unterschenkel-Orthesen, den Kinderrollstuhl „Mio“, einen Stehtrainer „Todd“ und einen „Madita fun“ zum Sitzen.
Der Body Mass Index (BMI) von Jonte ist in Ordnung. Er ist ein vergleichsweise großes Kind, hat offiziell jedoch kein Übergewicht. Er isst liebend gerne, hört aber auf, so dass er definitiv ein Sättigungsgefühl hat.
Jonte schläft seit seiner Geburt gut und gerne. Er schläft zwar nicht alleine, sondern einer von uns schläft mit in seinem Bett. Dafür schläft er aber die Nacht ohne größer aufzuwachen durch. Jonte hat aktuell die Pflegestufe 3 und einen Schwerbehindertengrad von 80 Prozent.
Mein Mann hat nie einen Zweifel gezeigt, dass wir das als Familie schaffen werden. Wir pflegen Jonte gemeinsam und gleichberechtigt und haben uns noch einmal von einer ganz anderen Seite kennengelernt.
Mit Stolz beobachte ich meine Tochter, die Jonte zum Lachen bringt, um ihm nah zu sein. Ich sehe wie sie selbstbewusst seinen Rollstuhl schiebt und alle seine Hilfsmittel ausprobiert, um zu wissen, wie sie sich anfühlen. Ich höre, wie sie mit ihm schimpft, denn er muss keine Extrabehandlung bekommen, „nur weil er behindert ist“. Und zeitgleich erinnert sie mich immer in meinen müden, ungeduldigen Momenten empathisch daran, dass Jonte es nicht besser kann.
Mit Stolz betrachte ich Jonte, der sich so viel mehr anstrengen muss als andere. Er nimmt unsere Welt mit seinen Sinnen ganz anders wahr als ich. Trotzdem kommt er in den allermeisten Situationen sehr gut in ihr zurecht. Er ist derjenige, der mir das Wichtigste über das Leben und über mich selbst beibringt. Niemand zeigt mir die Gleichzeitigkeit von Gefühlen und Zuständen besser auf als er. Stärke, Kampfgeist, Frust, Hilflosigkeit, Trauer, Glück, Freude, Liebe- diese tiefe Liebe liegen so dicht nebeneinander und das ist in Ordnung.
Uns geht es im Ganzen gut. Unser Leben ist ein anderes als wir uns vorgestellt haben: im Alltag oft anstrengender, lauter und komplexer. Am Ende jeden einzelnen Tages allerdings bewußter, intensiver und dankbarer.
Als seine Schwester mit dreieinhalb Jahren fragt, ob sie selbst oder wir Eltern auch behindert seien und wir dieses verneinen, fragt sie nach dem Warum – warum ist gerade Jonte behindert? Wir suchen nach einer passender Antwort: Ist es ein unglücklicher Zufall, einfach nur Pech? Ich erinnere mich daran, dass Jontes Physiotherapeutin, die uns gerade in der Anfangszeit auch immer emotional begleitete, sagte, dass Jonte sich uns als Familie ausgesucht hat. Eigentlich glaube ich nicht an Schicksal und trotzdem gefällt mir der Gedanke, dass es ganz genau so ist.
Eine „Glücklichkeitsminderung“ hat Jonte übrigens nicht: Er lacht, er liebt und er wird – bedingungslos – geliebt!